Sonntag, 9. November 2008
Wo finde ich Geborgenheit?
Vor gar nicht so langer Zeit lebte ein junges, lebensfrohes Mädchen mit ihren Eltern glücklich und zufrieden in einer kleinen aber hübschen Wohnung. Anita spielte täglich mit den Buben und Mädchen des Stadtviertels im nahen Park und als dieser zu klein wurde, unternahmen sie auch Streifzüge in das nahe Wäldchen. Wie groß das Wäldchen wirklich war, wußte niemand. Vielleicht war es auch ein riesengroßer Wald oder gar ein Urwald. Das lustige Völkchen hatte ihn noch nicht ganz erforscht aber sehr, sehr lieb gewonnen.
Eines Tages passierte es: Anita schlief im Schatten einer alten Buche ein und als sie aufwachte, war es schon dunkel und alle waren weg. Verzweifelt rief sie: "Wo seid ihr, hallo, laßt mich nicht allein." Niemand antwortete. Immer wieder rief sie aufs Neue. Vergebens.
Niemand hatte bemerkt, daß Anita noch im Wald war und die Eltern glaubten, sie sei noch bei den Spielkameraden. Anita aber kam in Panik, denn sie hatte den Weg zurück verloren. Tränen rannen in Strömen über die Wangen und rufen konnte sie auch nicht mehr. Ihr Schluchzen verstanden weder die Rehe, noch die Eulen, Hasen und was sonst noch im Wald die Nacht verbringt. Plötzlich funkelte zwischen den Ästen der Bäume und Sträucher ein fernes Lichtlein. Ohne auf die Dornen zu achten, die ihr die Füße und Hände zerkratzten, kämpfte sie sich zum Licht vor.
In der Hütte mit dem Licht aber saßen gar wilde Gesellen. Sie grollten Räuberlieder und die ganze Bude stank nach Pfeifenrauch und Schnaps. Anita bekam noch mehr Angst. Das Suchen wurde zu einer Flucht. Die Dornen zerkratzten ihr auch noch das Gesicht.
Erst im Morgengrauen entdeckte sie einen schmalen, holprigen Weg und ein junger hübscher Junge brauste mit seinem Moped daher. Die Bremsen quitschten und der Junge lud Anita ein, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Die Tränen versiegten und das Blut vertrocknete. Sie war gerettet, glaubte sie. Weit gefehlt. Der Junge war nur nach außen freundlich. Er dachte nicht daran, Anita nach Hause zu bringen.
Wie ein Wilder raste er mit Vollgas über Stöcke und Steine, die auf einem Waldweg nun einmal liegen, seiner Räuberhöhle entgegen, wohin er schon seit längerer Zeit verirrte Mädchen entführte. Anita schmerzte von den vielen Stößen der Hintern, mit dem rechten Bein streifte sie den Auspuff und die Brandwunde feuerte Hilfeschreie in das gemarterte Hirn. Zu allem Überdruß mußte sie sich an dem widerlichen Kerl auch noch festhalten, um nicht von diesem Höllengefährt zu stürzen und sich womöglich auch noch das Genick zu brechen.
Plötzlich stand wie aus dem Boden geschossen ein alter Mann mit langem Bart und feurigen Augen vor ihnen. Einen Augenblick schien es, dass der Wilde auf seiner Maschin den Alten über den Haufen führe. Da bockte der Motor und knapp vor der großen Zehe des Alten kam das Vorderrad des Feuerstuhls zum Stehen. Der Alte hatte mit einem Augenblitz die Zündung abgestellt, er war ein Zauberer, ein Zauberer von der guten Sorte wie sich gleich herausstellte. Er nahm Anita bei der Hand und brachte sie zu seiner Tante, einer alten aber guten Fee. Julius, der Sohn der Tante des Zauberers verliebte sich in das junge zerkratzte Mädchen. Anita trauerte noch lange um ihre Eltern, die sie nie mehr sah, aber ihre Wunden verheilten. Sie blieb bei Julius und lebte glücklich bis an ihr seliges Ende.
"Geborgenheit findest du nur bei Menschen, die dich lieben und nicht bei denen, die mit dir spielen", murmelte der Zauberer in seinen Bart, verschwand wieder im Wald und wartete auf den nächsten Mopedfahrer.

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